In Österreich darf man sagen, was man will, stellt Thomas Glavinic in seinem Kommentar fest. Es muss nur das sein, was die anderen hören wollen.
»TIEFER GRABEN« die alles roger?-Kolumne von Thomas Glavinic
"Bitte nicht lachen: Heide Schmidt wird Verlagsherausgeberin. Sie brauchen nicht auf den Kalender zu schauen, der Fasching hat sich für dieses Jahr erledigt. Die frühere Oberausgrenzerin und Anführerin der linken Jagdgesellschaft gegen Jörg Haider arbeitet jetzt bei einer paranoid-hetzerischen Online-Plattform namens "Willkommen, Kultur", das offenbar das Meinungszentralsekretariat der Grünen Berufs-Lobbyistin Monika Langthaler werden soll. Neo-Herausgeberin Schmidt kündigt "das Ende der Machos" an. Was dann kommt, liest sich wie ein Klagelied gebeutelter Mädchen. (...) Dann kommen die armen, diskriminierten Frauen. Da hat die Puls4-Lady Corinna Milborn für "Willkommen, Kultur" eine Liste geschrieben, wo die bösen Männer überall die armen Frauen unterdrücken. In der Online-Ausgabe beklagt eine Staatskünstlerin, dass "eine erfolgreiche junge Frau noch immer hässlich genannt werden darf", und die lesbische Gewichtheberin Glawogger leidet unter "Unterdrückungswahn" und "Benachteiligungs-Kultur". Eine Emanze zu sein ist wirklich ein harter Job."
Rechte Wochenzeitung
Diesen zitierten Textausschnitt könnte man fast für einen im Netz kursierenden Schabernack linker Provokateure halten, wäre unter dem frauenfeindlichen Greinen nicht doch deutlich der originale Kasernenhofton einer vom Staat geförderten Wochenzeitung herauszuhören, in der die rechte Meinungselite jeden Mittwoch neu verlautbart, welche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegenwärtig in der Ecke stehen müssen und wessen Aktien wieder gestiegen sind. Zumindest nehme ich an, dass das noch immer so ist, denn wer liest so etwas schon.
Neulich jedoch war meine am Naschmarkt erstandene Goldbrasse in ein Exemplar davon eingewickelt. Sonst hatte ich nichts zu lesen dabei, das Handy war unauffindbar, und Satan saß mir auf der Schulter: Als das Fischvieh in der Pfanne schmorte, wollte ich mir von der Zeitung ein Bild machen. Ein folgenschweres Missgeschick. Die Gazette enthielt nicht einen guten Artikel. Es waren gleich drei. Damit war mein Tag gelaufen. Offenbar bin ich doch nicht so frei von Vorurteilen, wie ich gern glauben möchte.
Vielleicht sollte ich wieder einmal Erwin Ringels Werke lesen. Ihm zufolge ist ein nicht unwesentliches Merkmal der österreichischen Seele ihre raunzerische Wehleidigkeit. Wehleidig bin ich nicht besonders, aber als Sohn eines Bosniers zähle ich ja mancherorts ohnehin nicht zu den richtigen Österreichern. Dabei gibt es starke Verdachtsmomente, die auf die Vollgültigkeit meiner österreichischen Identität hinweisen. Zum Beispiel bin ich leicht beleidigt. Der Unterschied zwischen wehleidig sein und beleidigt sein besteht darin, dass man ohne Wehleidigkeit bequemerweise beleidigt sein kann, wann man will, und diese Gemütslage nicht von äußeren Einflüssen abhängig machen muss.
Ich erinnere mich nicht mehr, was Ringel über das Beleidigtsein geschrieben hat, aber ich habe den Verdacht, das ist der Lieblingszustand der Österreicher. Ihr Wunsch, beleidigt sein zu dürfen, ist sogar stärker als ihre fanatische Bereitschaft zur Gemütlichkeit, die ohnehin schon so ausgeprägt ist, dass es mich nicht einmal wundern würde, wenn Hilmar Wäckerle, der als Kommandant des Konzentrationslagers Dachau die erste Lagerordnung verfasste, nach mehreren Zwischenfällen mit Aufsehern aus der Ostmark ein striktes Verbot von Gesang und Ziehharmonikaspiel im Lager hätte festschreiben müssen.
Liebe zum Beleidigtsein
Dieser Liebe zum Beleidigtsein wegen finden sich in österreichischen Zeitungen zwischen fundierten Texten immer wieder kleinere und größere Eskalationen, als wären die Verfasser von früh bis spät vom Gedanken besessen, das Leben springe mit ihnen um wie ein bösartiger Waldzwerg, der ihnen mithilfe seiner Zauberkräfte die verdiente bedeutendere Rolle in der Welt versagt. Sie plagt der Argwohn, das Leben sei auf sie irgendwie beleidigt, und deswegen sind sie auf alles und jeden beleidigt.
Und wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich eingestehen, dass auch ich zumindest in Phasen, in denen meine Depressionen zu stark werden, die Übersicht über meine innere Landschaft gelegentlich so weit verliere, dass sich bei mir die Wurzel des Beleidigtseins, die Selbstgerechtigkeit, einschleichen kann. Und das ist nicht akzeptabel, das darf ich mir nicht durchgehen lassen. Gegen moralische Verwahrlosung muss man frühzeitig mit Besinnung und Besonnenheit eingehen, sonst steht zwischen uns und der Barbarei irgendwann vielleicht nur noch lückenlose Selbstüberwachung. Unser Erbe kann nicht die Schuld sein, es muss der Zweifel sein. Vor allem der an uns selbst.
Textseifenblase
Ob beim Autor des eingangs zitierten Artikels schon die Barbarei anklopft oder er einfach nur nicht darüber nachgedacht hat, was er da schreibt, weiß ich nicht. Er klingt jedenfalls beleidigt. Aber warum? In Österreich darf man sagen, was man will, es muss nur das sein, was die anderen hören wollen. Solange man immer höflich grüßt und Teil eines totalitär denkenden Meinungsestablishments ist, läuft das Leben in sicheren Bahnen ab. Und für sein Rumpelstilzchensyndrom bezahlt zu werden, ist kein hartes Schicksal.
Wenn man einen schlechten Tag hat, darf man sich quer durch den persönlichen oder redaktionsinternen Hasskatalog lesen und solcherart aufmunitioniert eine Textseifenblase produzieren, die neben Verunglimpfungen des anderen Geschlechts nur aus einer Aneinanderreihung von Namen besteht, die bei Menschen mit dem Selbstverständnis, aufgrund ihrer überlegenen Moral wertvollere Menschen zu sein, die dunklen Seiten ihrer Persönlichkeit freilegen. Hinweise auf die erheblichen Divergenzen zwischen den Weltbildern der gelisteten Personen wären da lästig. Auf die Knöpfe der Ressentiment-Maschine zu drücken schafft alternative Fakten. Mit diesem Mechanismus konnte Jörg Haider spielen wie kaum ein anderer. HC Strache und einige Journalisten haben es ihm abgeschaut.
Saufen und Qualitätsmedien
Es häufen sich die Indizien, dass die unwidersprochene Bezeichnung solcher Zeitungen als Qualitätsmedien einer der Gründe ist, warum unter halbwegs reflektierten Menschen dieses Landes so viele saufen.
Es sind jedoch nicht nur randständige Journalisten, die Argumentation durch manipulative Assoziationsketten ersetzen, um Menschen zu diskreditieren. Es ist allerorts zur bewährten Methode geworden, Andersdenkenden eine verpönte Gesinnung zu unterstellen, um ihnen ein Etikett anzuheften, an dem man von Weitem erkennt, dass man bei denen lieber nicht einkaufen sollte, weil man sonst der Nächste sein könnte, der zum Abschuss freigegeben wird. Aus Angst, für einen Abweichler gehalten zu werden, hält man so lieber den Mund oder macht beim Niedermachen gleich selbst mit. Die Frage, was eigentlich links ist und was rechts, stellt sich da nicht mehr.
Es liegt wohl an meinen seltsamen Kindheitsprägungen, dass ich mit Rechtsextremismus eine der schlimmsten zivilisatorischen Zumutungen assoziiere: Marschmusik. Womöglich bin ich da ungerecht, und es wird irgendwo auch gemäßigte Marschmusik gespielt, aber ich kann es nicht ändern: Mit der armen Marschmusik verbinde ich die Unterdrückung von Meinungen, die Isolierung, Stigmatisierung und Einschüchterung Andersdenkender. Wenn ich das Gestampfe höre, denke ich an Täter-Opfer-Umkehr, an die Verleumdung vermeintlicher politischer Gegner bis hin zum Rufmord, denke ich an den Missbrauch politischer, ökonomischer oder journalistischer Macht. Wenn Marschmusik gespielt wird, beschließen fünf Personen, die sechste umzubringen, und nennen das Demokratie.
Rückwärtsgang
Wir gehen rückwärts, konstatierte Erwin Ringel, wir werden wieder intoleranter, verschlossener und selbstgefälliger, üben wieder Macht aus und schwingen uns zu Richtern auf. Damals war die Kirche gemeint. Heute würde er diesen Befund auf das Weltliche ausdehnen. Wir hatten die Wertungen und die Verurteilungen nämlich schon hinter uns. Heute schlagen wir uns wieder wegen unserer Lebensentwürfe gegenseitig den Schädel ein.
Die 68er erstritten für uns die Toleranz und ermahnten uns, dem Hörensagen keinen Glauben zu schenken und dem Zweifel zu vertrauen. Sie lehrten uns, den Schein zu überprüfen. Wir lernten, zunächst uns selbst zu hinterfragen und erst dann den anderen. Das nannte man Respekt. Eine Gesellschaft muss ihre Werte hüten, sonst verschwinden sie unmerklich. Respekt ist so ein Wert. Weil wir immer gleichgültiger und rücksichtsloser wurden, haben wir den Respekt vor uns selbst verloren. Weil wir wieder ganz genau zu wissen meinen, wie der andere ist und wie viel er wert ist, haben wir vergessen, dass er etwas wert ist.
Journalisten und Shitstormer
Die wertende Begleitung einer Gesellschaft verlangt vom Kritiker das Hinterfragen der eigenen Motive und impliziert eine zwingende Überprüfung der eigenen Standpunkte, weil er nie vergessen darf, dass er selbst Teil des Spiels ist. Selbstzweifel als journalistische Kategorie sind jedoch seit Jörg Haiders Zernierung der Werte der Zweiten Republik seltener zu bemerken. Die Missachtung von Werten besteht auch im bewussten Wegschauen und in der kommentarlosen Akzeptanz virtueller Pogrome, wenn deren Opfer jene sind, deren Meinungen man nicht teilt oder deren Erfolg die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation befeuert.
Doch weniger die Mitmarschierer in dieser Zusammenrottung der zu kurz Gekommenen müssen uns Sorgen bereiten, denn die Shitstormer von heute sind die Marschierer von einst, wir kennen sie, es gab sie schon immer, und es wird sie immer geben. Angst haben müssen wir vor Journalisten, die sich im Besitz einer höheren Moral wähnen, aus der sie das Recht ableiten, verhasste Prominente einem willfährigen Nickname-Mob für Wutfanale übergeben zu dürfen. Dramatisch daran ist, dass heute Journalisten, die sich weltoffen, tolerant und aufgeklärt geben, stillschweigend mit anonymen Wichten paktieren, solange diese geistigen Kopiermaschinen ihnen genehme Meinungen vertreten. Noch dramatischer ist aber, dass diese Journalisten nicht merken, dass sie dadurch ihre Würde verlieren.
Aufhören mit Hass
Aus diesem Dilemma wird uns niemand anderer herausziehen, das können wir nur selbst. Wir müssen verstehen, dass wir alle Teil des Problems sind und nicht Teil der Lösung. Wir können die Gesellschaft erst verändern, wenn wir uns eingestanden haben, wer wir sind. Was immer wir für Menschen zu sein glauben, in Wahrheit sind wir alle Hassende. Wer immer diesen Satz gerade liest, hasst zu viel. Ich auch. Ich hasse zu viel. Damit müssen wir aufhören.