alles roger?-Kolumne von Peter Westenthaler
Von Kernspaltungen, Intrigen, Zwergenaufständen und Ehrfurcht.
Die Kernspaltung ist in der Physik jener Prozess, bei dem ein Atomkern unter Energiefreisetzung in zwei oder mehrere kleine Kerne zerlegt wird. Aber auch in der österreichischen Innenpolitik gab es vergleichbare Prozesse, die in ihrer Dimension der letzten Wochen alles Bisherige in den Schatten stellten:
Bundespräsidentenwahl: Ein letzter, knapper Sieg des Systems!
Da war zunächst einmal die Kernspaltung der Wähler, die erstmals in der Geschichte zu einem Bundespräsidenten führte, der nicht aus den Reihen der Regierungsparteien stammt. Ein einzigartiges tektonisches Politerdbeben, aber auch ein Zeichen demokratischer Reife. Am Ende gab es trotz Gleichstands einen knappen Sieger aus dem Duell des Systemkandidaten Van der Bellen gegen den blauen He-rausforderer Hofer. „Alle gegen einen“, war der Schlachtruf, der in Kenntnis der österreichischen Seele am Ende doch den scheinbar logischen, braveren, unkomplizierteren Bundespräsidenten brachte. Wie so oft in der österreichischen Geschichte hat der Weg des geringeren Widerstandes über den Mut auf etwas Neues – wenn auch nur hauchdünn – obsiegt.
In einem geradezu penetranten, bereits an die Grenzen des Erträglichen gehenden, finalen Kampf um die Macht in der Hofburg ist das ums Überleben kämpfende (linke) System aus Grünen, Teilen aller anderen Parteien, Künstlern, ORF, Medien sowie Teilen der Kirche (die merkwürdigerweise einen Agnostiker unterstützten) sogar in Union mit Unterweltbossen in die Schlacht gegen Hofer und zur Wahl Van der Bellens „geritten“. Flankiert von Empfehlern, Warnern und Zurufern aus dem Ausland, die bereits in ihren eigenen Ländern keinen Wählerzuspruch mehr haben. Diese penetrante Phalanx – von Hofer sehr geschickt als „linke Hautevolee“ bezeichnet – hat auf fast nichts vergessen: Angstmache, Diffamierung, persönliche Attacken, Aufruf zu kriminellen Handlungen usw. Nur eines haben sie nicht bedacht: Hofer wurde all diesen Anfeindungen und Unterstellungen „nicht gerecht“ und verkörperte bei jedem öffentlichen Auftritt genau das Gegenteil: Ruhe, Besonnenheit, Eloquenz, Sachkompetenz und Sympathie. Damit prallten die Angriffe seiner Gegner nicht nur an ihm ab, sondern wurden zur Entscheidungshilfe mancher noch Unentschlossener. Am Ende steht ein historischer Achtungserfolg für Hofer, ein Prestigeerfolg für die FPÖ und ein letztlich auf knapp über 50 % der Wählerstimmen zusammengeschrumpftes Establishment. Nie zuvor wurde ein Freiheitlicher mit solch einem Wählervertrauen ausgestattet. Am Ende hat es aber doch nicht gereicht, war die Angstmache stärker. „Hofer verhindern“ war eben ein paar Tausend Stimmen mehr wert. Trotz breitester medialer und öffentlicher Unterstützung hat eine knappe Mehrheit den „Systemkandidaten“ Van der Bellen gewählt. Sicher viele nicht aus Überzeugung, sondern aus einem Gefühl der Unsicherheit heraus. „Was passiert mit unserem Land, wenn etwas völlig Neues passiert?“ Das war wohl jene nicht zu beantwortende, aber dafür entscheidende Frage, die im letzten Moment einige zum Kreuzerl für das Bekannte – eben das System veranlasste. Österreich hat im ersten Wahlgang den ersten mutigen Schritt in Richtung Veränderung gesetzt und im zweiten Wahlgang – nach einer beispiellos brutalen und irrationalen Angstkampagne gegen Hofer – den Mut verloren, auch den zweiten Schritt zu machen. Das System hat noch ein letztes Mal gesiegt. An den wichtigsten Schalthebeln der Macht sitzen nun Rot und Grün. Ob das eher ein Gleichgewicht der gegenseitigen Kontrolle oder des Schreckens ist, wird sich zeigen. Bleibt ein letzter schaler Beigeschmack von dieser Wahl: Niemand konnte bisher schlüssig erklären, wa-rum in der kurzen Zeit zwischen erstem und zweitem Wahlgang die Anzahl der Wahlkarten geradazu explodierte und einen Rekordstand ergab. Ebenfalls bleibt ungeklärt, warum gerade in Wien erstmals ganze Pflegeeinrichtungen geschlossen (und unkon-trolliert) mit Wahlkarten wählten und fliegende Wahlkommissionen unverrichteter Dinge wieder weggeschickt wurden.
Bundeskanzler Kern: Neustart oder „More of the same“?
Zweites großes Thema war der Auftritt des neuen Bundeskanzlers Kern und die zuvor angedachte, lange geplante, scheibchenweise „Zerlegung“ des SPÖ-Vorsitzenden Faymann in seinem eigenen Atomkern, pardon, seiner Partei, der er jedoch – taktisch durchaus bemerkenswert – mit seinem Überraschungsrücktritt zuvorkam und somit die SPÖ in eine ihrer tiefsten Krisen stürzte. Diese „Energiefreisetzung“, die zuvor von einigen Genossen und eifrig auch von seinem Nachfolger in der eigenen Partei provoziert wurde, führte letztlich dazu, dass genau dieselben Genossen dann auch diesen Nachfolger ihrer Partei ungeniert aufs Auge drückten. Wenn man sich die roten Revoluzzer genauer ansieht, könnte man getrost von einem „Zwergenaufstand“ sprechen. Die roten aus NÖ, Vorarlberg, Steiermark, Salzburg und OÖ verbindet in erster Linie ihre chronische Erfolglosigkeit beim Wähler und die dadurch entstandene Marginalisierung in ihren Ländern. Einzig der Revoluzzer aus Kärnten darf sich Landeshauptmann nennen. Der rote „Zwergenaufstand“ hat also den eigenen Parteichef und Bundeskanzler weggemobbt, könnte man meinen, aber dann trat der im Ringen um das höchste Parteiamt unterlegene Kandidat Gerhard Zeiler mit entwaffnender Ehrlichkeit (oder doch berechnendem Kalkül?) in der ZIB 2 auf und verkündete den eigentlichen Paukenschlag: Er und Kern hätten das Ende Faymanns bereits lange vorbereitet! Soll heißen, dass niemand anderer als der nunmehr amtierende Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende höchstpersönlich und höchst aktiv an der Intrigenschraube drehte, um damit dem „Zwergenaufstand“ und ihm höchstselbst zum Erfolg zu verhelfen. Freilich ohne selbst öffentlich in Erscheinung zu treten und stets den braven Bahn-Manager ohne Politanimo mimend. Eine Kerbe an Kerns „Neustart“, die wohl bleiben wird. Aber vielleicht gibt das ja Grund zur Hoffnung. Immerhin war es bisher so, dass die letzten erlebbaren Kanzler der Republik allesamt einen guten Start und ein schwaches Ende hatten. Bei Kern scheint dies zumindest, was den Start betrifft, umgekehrt zu sein. Die von ihm selbst inszenierte Intrige flog auf, das präsentierte „neue“ Team strahlt nicht jenen Aufbruchswillen aus, den es für eine Trendumkehr bräuchte. Die ersten Auftritte Kerns waren engagiert und rhetorisch geschliffen, aber inhaltlich eher mau, kaum abzuwägen und mit vielen Allgemeinplätzen geschmückt. Trotzdem gelang es ihm, nahezu alle Medien – allen voran natürlich den überschwänglichen ORF – zu begeistern und geradezu in Ehrfurcht zum Erstarren zu bringen. Erst in drei bis fünf Monaten, wenn diese unterwürfige Ehrfurcht der beinharten, tagespolitischen Analyse weichen dürfte, wird man die ersten Schlüsse über Erfolg oder Misserfolg Kerns ziehen können.
Doch zurück zur Gegenwart. Christian Kern wurde schließlich von den Protagonisten des „Zwergenaufstands“ ohne viele Fragen vom „Head of Desaster“ zum roten „Master“ gekürt. Und damit wurde noch eine zweite Entmachtung im roten Gefüge deutlich, die bisher schier unmöglich schien. Die Entmachtung vom bisherigen roten „Gott seibeiuns“ Michael Häupl. Ging bisher rein gar nichts ohne ihn in der SPÖ, passierte diesmal wirklich alles ohne ihn oder an ihm vorbei. Wenige Tage vor der bereits intern vom „Zwergenaufstand“ beschlossenen Faymann-Grillerei spannte ein offenbar uneingeweihter Häupl noch an der Seite Faymanns in der ZIB 1 seinen bereits löchrigen Schutzschirm auf und noch am Morgen des Rücktrittstages grollte der Wiener Bürgermeister in die Mikrofone der verdutzten Journalisten vor dem Kanzleramt, dass Faymann auch noch Abends „na sicher“ Parteiobmann sein werde. Nur wenige Stunden später war Faymann Geschichte. Und auch danach hatte Häupl die Zügel zwar offiziell, aber nie wirklich in der Hand. Vielmehr überrrumpelte einmal mehr der „Zwergenaufstand“ den nunmehr interimistischen Parteichef und schaffte via Beschlüsse in den Ländern pro Kern sofort Tatsachen.
Künftig wird also die SPÖ nicht mehr vom bisher alleinigen Machtzentrum in Wien gelenkt, sondern von einer verschworenen Truppe aus den Bundesländern, und das könnte noch zu weiteren Kernspaltungen führen, wenn diese im roten Postenkarussell zu wenig berücksichtigt werden. Apropos Kern. Ist er nun der Wunderwuzzi, der Österreich erfolgreich regieren, die SPÖ aus der Krise führen, die ÖVP zum Partner machen und die FPÖ in die Knie zwingen kann? Wenn es nach einer echten Kennerin der SPÖ und des politischen Apparates, Nationalratspräsidentin Doris Bures, geht, dann sicher nicht. Sie sorgte vor einigen Monaten mit ihrem öffentlichen Sager „Kern wäre kein guter Politiker“ für die bisher deutlichste Einschätzung überhaupt und wird sich dafür noch oft rechtfertigen müssen. Aber wie muss nun der idealtypische rote Leader wirklich ticken? Hemdsärmelig, leutselig, bürgernah, bodenständig, der Arbeitnehmerschaft verbunden, kommunikativ, bescheiden usw. Alles Eigenschaften, die einem beim bisher eher kühlen Bahnmanager nicht sofort auf der Zunge liegen. Seine Kritiker schimpfen Ihn „Schnösel“, „abgehobener Millionär“, „emotionsloser Manager“, „Nagelschuh-Sozialist“. Tatsächlich kommt Kern nicht unsympathisch, aber auch nicht gerade verbindlich und greifbar über den Schirm. Noch wirkt das „Neue“ mehr als mangelnde inhaltiche Ansagen. Was aber die SPÖ braucht, ist nicht nur eine neue personelle Aufstellung, eine Parteirefom und eine neue Art des Regierens, sondern eine völlig neue „Markenplatzierung“ ihres Pateivorsitzenden bis zur nächsten Wahl. Das ist so, wie wenn man innerhalb von ca. 20 Monaten einen bekannten Energydrink zur erfolgreichen Biermarke umfunktionieren müsste. Eine wahrliche Mammutaufgabe, die nur dann gelingen kann, wenn genug Zeit dazu bleibt, sich der Neue auch wirklich beraten lässt und rasch dringend notwendige Reformen (Bildung, Sicherheit, Integration, Einkommen) angeht bzw. Fehlentwicklungen der letzten Monate (Flüchtlingsfrage, Registrierkassenpflicht, Arbeitslosigkeit) behebt. Und da kommt die ÖVP ins Spiel: Wird sie dabei tatenlos zusehen, wie die SPÖ aus Ihrem kühlen Manager einen „Everbody’s Darling“ macht, oder zieht sie die Reißleine und ruft die ultimative Schlacht um die Kanzlerschaft zwischen Kern und Kurz aus. Eine Polarisierung, die beiden nutzen könnte und die einen klaren Startvorteil für den schwarzen „Shootingstar“ bringt, weil er in Sachen Erfahrung die Nase vorn hätte. Neuwahlen mit diesem Duell um den Ballhausplatz wären sicherlich auch für HC Strache die ultimative Herausforderung. Er führt souverän in allen Umfragen und positioniert sich – strategisch klug – zunehmend mittig, um neue Wählergruppen zu erschließen. Doch könnte ihn die Zuspitzung zwischen Kern und Kurz viel Aufmerksamkeit kosten. Erstmals wäre der FPÖ-Chef nicht mehr allein in der Rolle des Herausforderers, sondern müsste in einem Dreikampf mit neuen, jüngeren Gegnern um die Wählergunst rittern. Spannend allemal! Doch machen erste Handlungen der Kern-Regierung eher ein anderes Szenario wahrscheinlicher: „More of the same“. Eine der ersten Regierungsvorlagen Kerns war die Versorgung seiner roten Genossen Heinz Fischer und Wener Faymann mit gut dotierten Posten samt Büro und Personal auf Steuerzahlerkosten. Das ist tiefste Altpolitik und hat mit Neustart rein gar nichts zu tun. Wenn Rot und Schwarz weitere zwei Jahre dahinwurschteln, sich weiter gegenseitig beschädigen und jeder versucht, den jeweils anderen schlechtzumachen und Erfolge gering zu halten, dann sind Kern und Kurz in zwei Jahren ebenso verbraucht wie unglaubwürdig, weil sich in Österreich nichts zum Besseren verändert hat. Dann steht die nächste Kernspaltung bei der Nationalratswahl 2018 bevor, aber nicht durch einen innerparteilichen „Zwergenaufstand“, sondern aufgrund einer gewaltigen „Energiefreisetzung“ durch den Souverän – den Bürger!