Ein Fortsetzungsroman von Andrea Fehringer & Thomas Köpf
Mir ist nicht gut«, sagte François Leblanc zu seinem Copiloten.
Eric Leclerc sah besorgt zu seinem Captain. So was hörte man nicht gern zehn Kilometer über der Erde. »Brauchst du einen Schluck Wasser? Ich sag hinten Bescheid.«
Er griff zum Bordmikro, aber François legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Danke, geht schon.« Der Captain schüttelte den Kopf, als wolle er etwas abschütteln. Seine Haut war grau. Grau und irgendwie zerknüllt.
Es war kein angenehmer Flug, schon von vornherein. Leblanc hatte ein Wochenende mit seinen beiden Buben, das er ihnen seit Monaten versprach, absagen müssen, um für einen kranken Kollegen einzuspringen, das Wetter war miserabel und der Reagan National Airport in Washington einer der zehn beschissensten Flughäfen der Welt. Beim Anflug musste man zwischen zwei scharf bewachten Flugverbotszonen durch und wenn man dem Pentagon oder dem CIA-Hauptquartier zu nahe kam, gab es Brösel. Beim Start musste man hurtig an Höhe gewinnen, sonst flog man ins Weiße Haus. Und Leblanc fühlte sich jetzt schon, gleich nach dem Abheben in Paris, als fräße jemand in ihm seine Eingeweide auf. »Danke, geht schon«, sagte er noch einmal. Den Instrumentencheck erlebte Leblanc wie durch eine Plexiglaswand.
Zabine, die Chefin der Cabin Crew, steckte den Kopf zur Tür ins Cockpit herein. »Alles roger bei den Herren?«
»Der Captain schwächelt«, sagte Leblanc und grinste müde.
»Das habe ich geahnt«, sagte Zabine todernst, »deshalb habe ich eine Stärkung mitgebracht. Voilà.« Sie reichte den Piloten ein Tablett mit zwei winzigen dampfenden Kaffeetassen drauf. »Feinster Espresso, garantiert nicht aus der Bordküche.«
Leblanc griff dankbar zu. Das Gebräu war so stark, dass es fast zähflüssig war. Umso besser, dachte der Captain und bildete sich ein, dass ein, zwei Lebensgeister wieder in ihm erwachten. Herrliche Erfindung, dieses Placebo.
»Ist übrigens etwas unruhig hinten«, sagte Zabine, »als ob was in der Luft liegt.«
»Logisch, wir«, sagte Eric, lachte und verschluckte sich herzhaft. „Danke«, sagte er, als er sich wieder erholt hatte, und stellte das Tässchen aufs Tablett zurück. »Lass sie im Gang Boule spielen, vielleicht beruhigt sie das.«
»Schwachkopf«, sagte Zabine, schenkte dem Copiloten aber ein Lächeln, auf dem man direkt nach Brüssel schweben konnte.
Das Bordsignal blinkte, Zabine wurde offenbar gebraucht. »Ja doch, ich komme«, sagte sie.
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Amelie Schatten sah ihren Mann von der Seite an. Seit sie in das Auto gestiegen waren, hatte ihr Leben einen anderen Aggregatzustand. Dabei war es schon ein, zwei Stunden davor zu Eis geworden. Eis, dachte sie. Dass sie mit dem Eismann verheiratet war, hatte sie auch erst jetzt erfahren. Fast wäre es ihr lieber gewesen, der Fremde mit der Glatze hätte sein Werk vollenden können. Sie drehte den Kopf zur anderen Seite und sah durch ihr Seitenfenster hinaus. Es war stockdunkel draußen. Genauso wie in ihr drinnen.
Die Ereignisse der vergangenen Stunden zuckten wie ein Film mit zu schnellen Schnitten vor ihr auf. Die Glatze. Die Kabelbinder, die sie am Sessel fesselten. Die Fragen. Wo ist der Eismann? Wo die Phiole? Der Schlag ins Gesicht. Das filigrane, silberne Werkzeug. Mach den Mund auf. Rede. Wo ist die Phiole? Der Countdown. Die Phiole? Zehn, neun, acht. Zuerst legen wir deinen Sehnerv frei. Sieben, sechs, fünf. Dein Mann, ein Killer. Vier, drei, zwei. Der Blitz. Und Felix.
Ihr Felix. Der Mann, der jetzt neben ihr im Auto saß. Der Killer, mit dem sie so ein schönes Leben hatte. Bis vor ein paar Stunden. Er hatte ihr erzählt, was zu erzählen war. Dass er ein Doppelleben führte, dass er nicht in einer Beratungsfirma arbeitete, dass er ein Spion war. Dass er Menschen umbrachte, hatte ihr die Glatze erzählt, nur hatte sie es da noch nicht geglaubt. Jetzt glaubte sie es nicht nur, sie wusste es. Felix hatte die Glatze erschossen. Um sie zu retten, ja. Wegen einer Krankheit, die es noch nicht gab. Das Fleischfieber, das er zu verhindern hatte. Für die IOS. Internationale Organisation für Sonderoperationen. Die kümmerten sich um die Abwehr globaler Gefahren. Felix war so was wie ihr Null-Null-Sieben. Schatten, Felix Schatten. Gegen das Fleischfieber wäre Ebola ein Schnupfen, hatte er ihr gesagt, ihr Mann, der Spion. Claus-Jürgen Badewitz, Vorstandsvorsitzender von BioPharm, wollte das Gegenmittel auf den Markt bringen. Aber kein Mensch kaufte ein Gegenmittel ohne die Krankheit. Also musste man es unter die Leute bringen, das Fleischfieber. Eine ekelhafte Seuche, die menschliche Zellhaufen schneller fraß, als man Hilfe sagen konnte. Und Alfred Gastbauer assistierte ihm, dem feinen Herrn Badewitz, als Gesundheitsminister tut man sich auf dem Gebiet ja leicht. Deshalb hatte man Felix eingeschaltet. Um diese ganze Schweinerei zu stoppen.
Amelie drehte ihren Kopf wieder Felix zu. Er schaute starr auf die Straße, nur seine Hand legte sich auf ihre.
»Hast du ihn umgebracht?«, fragte sie.
»Wen?«
»Gibt es da eine Auswahl?«, fragte Amelie tonlos.
Felix schwieg.
»Den Minister«, sagte Amelie.
»Nein«, sagte Felix. Was sogar stimmte. Er hatte das Attentat versaut. Jetzt wussten alle, dass er es gewesen war. Der Eismann. Den Spitznamen hatte er bekommen, weil er nicht mit Patronen, sondern mit Eisprojektilen schoss. Im Fall Gastbauer erstmals daneben.
»Aber du wolltest«, sagte Amelie.
»Nein.« Was ebenfalls stimmte. Er wollte den Gesundheitsminister nicht töten, er musste. Um dieses tödliche Milliardengeschäft zu stoppen. Drei Milliarden, um genau zu sein. Es war ihm nicht gelungen, er hatte versagt.
»Dieser Virus kann jederzeit und überall ausbrechen«, sagte Amelie.
Felix nickte.
»War es in der Phiole, die die Glatze bei uns gesucht hat?«
Felix nickte noch einmal.
»Dann bist du kein Mörder«, sagt Amelie. »Du hättest einen Schuldigen getötet und damit Tausenden Unschuldigen das Leben gerettet.«
Ja, dachte Felix, hätte. Laut sagte er: »Achtzigtausend. Wenn die Phiole entleert wird, sind das achtzigtausend Tote. Nur mit diesen wenigen Tropfen. Die hätte ich gerettet.«
Amelie nahm die Hand ihres Mannes, die immer noch auf ihrer lag, legte sie an ihre Wange und küsste sie.
Zur gleichen Zeit starb der erste Patient am Fleischfieber. Er steuerte eine Boeing sieben-vier-sieben, die von Paris nach Brüssel unterwegs war, wo sie nur noch im Sturzflug ankam. Sich, seinem Co-Piloten, der Cabin Crew und den hundertneunundvierzig Passagieren, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch alle mit dem Virus angesteckt waren, ersparte er damit einen qualvollen Tod. Hunderte Todesopfer, die der Absturz in einem stark besiedelten Vorort von Brüssel forderte, ließen ihr Leben nur deshalb, weil sie in der falschen Einflugschneise wohnten.
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Leyla Fendi saß wie angefroren an ihrem Schreibtisch. Als man in den Abendnachrichten im Fernsehen über einen Flugzeugabsturz in Brüssel zu berichten begann, war sie noch tief über eine Exceldatei auf ihrem Laptop gebeugt gewesen. Ergonomisch konnte man ihre Sitzhaltung beim Arbeiten nicht nennen. Wenn es hoch herging, lagen gerade noch fünfzehn Zentimeter zwischen ihrer Nasenspitze und dem Monitor. Die Brille lag neben der Maus. Leyla war keine sehr praktische Person. Dafür eine hervorragende Biochemikerin. Und nicht nur in Zürich. Mittlerweile hatte sie in ganz Europa und halb Amerika einen guten Ruf. Sonst hätte man jemand anderen gebeten, die Untersuchungsergebnisse, die in der Exceldatei ausgewertet waren, zu überprüfen. Die Analysen hatten einen Verdacht aufkommen lassen, den sie sich ohne einen weiteren Kontrolldurchgang noch gar nicht auszusprechen traute. Sie arbeitete konzentriert und ohne Pause. Der Fernseher lief nebenbei wie ein Radio, es war eine Berieselung, die sie normalerweise wegschalten konnte. Jetzt störte es sie.
»… sind bei der Flugzeugkatastrophe von Brüssel an die tausendfünfhundert Opfer zu beklagen …«
Leyla wollte den Fernseher eben leiser drehen, da sagte die Sprecherin: »… Rätsel gibt den Ärzten vor Ort ein seltsames medizinisches Phänomen auf …«
Das Bild zeigte den Unterarm einer Frau. Der Kameramann versuchte sichtlich, nicht erkennen zu lassen, dass der an keiner Frau mehr dranhing, aber ganz gelang es ihm nicht. Leyla verzog keine Miene. Sie starrte auf den annähernd schwarzen Fleck auf der Haut des Armes, den die Kamera nun in Großaufnahme erfasste.
»… fand man seit Beginn der Bergungsarbeiten an einer Vielzahl der Leichen. Die Herkunft dieser schwarzen Flecken kann sich keiner der Ärzte erklären …«
Leyla war keine Ärztin, aber sie könnte die Flecken nicht nur erklären. Sie hatte sie sozusagen entdeckt.
»… muss es sich um das Symptom einer stark übertragbaren Krankheit handeln, einer Art Seuche, von der aber noch niemand …«
In dem Moment schoss Leyla von ihrem Sessel auf, rannte zuerst gegen den Türstock, dann ins Wohnzimmer und weiter ins Schlafzimmer, wo sie mit ihrem Ärmel an der Türklinke hängenblieb. Leyla könnte nicht einmal durch den Triumphbogen laufen, ohne irgendwo anzustoßen, sagte Leon immer.
»Leon!«, rief sie. Und noch einmal: »Leon!«, selbst als sie schon vor dem ungemachten, leeren Bett stand. Mit einem Ruck drehte sie sich um und lief zum Safe im Ankleideraum daneben. Fahrig tippte sie die Ziffern ein, verdrückte sich, fing von vorne an. Endlich schwang die Tür auf. Leyla erstarrte, wankte die paar Schritte zurück ins Schlafzimmer und sank auf die Bettkante. Er hatte es ernst gemeint, dachte sie. Wie konnte ich glauben, dass er nur droht.
Mühsam stand sie auf und schleppte sich zu ihrem Schreibtisch. Mechanisch tippte sie die Adresse in eine neue E-Mail. konrad.rosenheimer@euro-sana.com. Und dann nur drei Worte: Das Fleisch brennt.
Fortsetzung folgt »»