Warum konnte ein Video eine Regierungskrise auslösen? Wer zieht die Fäden? Wem nützt der Putsch durch Kanzler Kurz? Und warum wurde der erfolgreiche FPÖ-Innenminister aus dem Amt gekickt? alles roger? beleuchtet die wahren Hintergründe des vorzeitigen Endes der türkis-blauen Regierung.
Text: Regina Zeppelzauer
Es war ein innenpolitisches Erdbeben, als Bundeskanzler Sebastian Kurz am 18. Mai 2019 mit den Worten "Genug ist genug!", die Koalition mit den Blauen aufkündigte. Damit beendete er nach genau 517 Tagen die türkis-blaue Regierung und rief Neuwahlen aus. Wie schon zwei Jahre davor - damals stellte er allerdings der SPÖ die Sessel vor die Tür. Den Koalitionsbruch nehmen ihm nicht nur die FPÖ-Wähler übel. Kritik hagelte es aus allen Ecken, denn Kurz beendete damit auch das erfolgreiche Reformprojekt von Türkis/Blau.
Türkis-blaue Bilanz
Diese Regierung brachte beinahe im Wochentakt Reformvorhaben aufs Tapet. Ob Arbeitszeitflexibilisierung, die Aufhebung des von der Vorgängerregierung beschlossenen Rauchverbots, die Reform der Sozialversicherungen oder die Mindestsicherung neu - Man übte sich in demonstrativer Harmonie, lebte einen "neuen" Stil mit abgestimmtem Wording und Message Control. Auch beim Budget gelang der Kurz-Strache-Regierung erstmals seit 44 Jahren ein Nulldefizit. Erst vor kurzem präsentierte der ÖVP-Finanzminister Hartwig Löger die geplante Steuerreform. Die ist mit dem Ende der Koalition aber nur noch Schall und Rauch, so wie auch andere wichtige Entlastungen für die Bürger. Damit stellt sich aber die Frage: Warum wollte Kurz nach dem Strache-Rücktritt nicht mit einer FPÖ unter neuer Führung, etwa mit Norbert Hofer als Vizekanzler weiterregieren und die geplanten Reformen im Sinne der Bürger umsetzen? Weil er diese Regierung lieber aus eigenem Machtinteresse sprengte. Nicht das erste Mal. Zwei Jahre zuvor war die SPÖVP-Koalition von ständigen Querelen und gegenseitigen Schuldzuweisungen überschattet. Der Rücktritt von ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner machte den Weg frei für Shooting-Star Sebastian Kurz. Der nutzte die Gunst der Stunde und stellte ein beinhartes Forderungspaket an seine Partei. Er wollte volles Durchgriffsrecht sowie die Oberhoheit bei Personalentscheidungen und in Budgetfragen. Macht mit allen Mitteln. Den schwarzen Granden blieb keine andere Wahl, denn Kurz schien die einzig vernünftige Alternative, um das angeschlagene Image der Schwarzen zu polieren.
Türkis ist das neue Schwarz
Für Kurz war an eine Weiterführung von Rot/Schwarz nicht zu denken, Neuwahlen mussten her. Auch die Parteifarbe der ÖVP wurde kurzerhand in ein frischeres Türkis getauscht. Und Kurz sollte seinen Ziehvater Wolfgang Schüssel nicht enttäuschen - die Wahl 2017 wird zum vollen Erfolg für die Türkisen unter Kurz, er selbst zum jüngsten Bundeskanzler in der Geschichte der Republik. Die FPÖ, nur knapp hinter der SPÖ Dritter, war plötzlich ein vorstellbarer Koalitionspartner. Die Chancen auf eine Regierungsbeteiligung der Blauen waren hoch wie seit Haider nicht mehr.
Kurz ging die türkis-blaue Zweckgemeinschaft ein. Es begann ein Poker um die Ministerien und was völlig undenkbar schien: Außen- und Innenministerium sollten fortan in Hand der FPÖ sein. Gerade das Innenministerium galt bis dahin als schwarze Bastion, wurde seit dem Jahr 2000 durchgehend mit ÖVP-Politikern besetzt. Ein folgenschwerer Fehler des unerfahrenen Jungkanzlers, der die schwarzen Altvorderen auf den Plan rief.
Ein Möchtegern-Salvini
Über die Jahre zeigte Kurz große Flexibilität bei seinen politischen Ansichten. In seiner Funktion als Staatssekretär forderte Kurz noch "Integration durch Leistung" und mehr Willkommenskultur. Dann setzte 2015 die Flüchtlingswelle ein und Kurz, in seiner Rolle als Außen- und Integrationsminister, vollzog einen politischen 180-Grad-Schwenk und setzte sich plötzlich auf ein bis dahin "rechtes" Thema drauf, machte als Erster in der Regierung Druck in der Flüchtlingsfrage. Kurz wollte den Flüchtlingsstrom nach Österreich eindämmen, die Zuwanderung strenger kontrollieren und die Balkanroute schließen. Er überraschte als konservative Ausgabe eines Populisten. Seine Gratwanderung brachte ihn schließlich auf den Kanzlerthron. Seit seiner Angelobung glänzte er dann mehr durch Schweigen. Nicht so der Koalitionspartner FPÖ, die blauen Minister machten hervorragende Arbeit. Allen voran Innenminister Herbert Kickl, der souverän in den Fragen der Asyl- und Zuwanderungspolitik agierte. Kickl polarisierte, aber er hatte Erfolg. Die FPÖ wurde immer stärker. Der blaue Innenminister dominierte mit den populären Themen Sicherheit, Kampf gegen Asylmissbrauch, Zuwanderungsstopp und Grenzüberwachung die Schlagzeilen und nahm dem Kanzler damit quasi das Zepter aus der Hand.
Das Putsch-Drehbuch
Dem türkisen Kurz und der alten ÖVP-Garde war das ein Dorn im Auge. Denn der Verlust des Innenministeriums bedeutete einen Machtverlust, das konnte man nicht hinnehmen. Die Volkspartei musste das BMI zurückholen, um jeden Preis. Da kam #Ibizagate wie gerufen. Konnte bis dato nichts und niemand das Duo Kurz-Strache vom gemeinsamen Weg abbringen, war ein zwei Jahre altes Video, das HC Strache und Johann Gudenus in einer Privatvilla auf Ibiza zeigt, Auslöser für eine Regierungskrise.
Mit dem vielgepriesenen guten Gesprächsklima zwischen den beiden Regierungspartnern war es schlagartig vorbei. Vizekanzler Strache zog die Konsequenzen aus seinem Fehlverhalten und verkündete seinen Rücktritt. Er wollte die Fortsetzung der türkis-blauen Koalition nicht gefährden. Man schlug dem Koalitionspartner einen Austausch an der Parteispitze vor, Norbert Hofer sollte übernehmen. Kurz war das nicht genug. Er forderte auch noch das "Haupt" von Innenminister Kickl, der am sogenannten Ibiza-Video völlig unbeteiligt war. Darauf stieg die FPÖ nicht ein und Kurz deshalb aus.
Bis dahin überzeugte Türkis/Blau mit guter Arbeit, waren knapp 60 Prozent der Österreicher zufrieden mit der Regierung. Und auf einmal erklärte Kurz in seinem Statement zum Koalitionsende: "Die FPÖ kann es nicht." Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht abwegig, dass der Absprung in die Neuwahl von langer Hand generalstabsmäßig geplant gewesen war.
Ziel war immer die Absolute
Kurz sah seine Chance gekommen, seine Macht noch mehr auszubauen und die FPÖ zu schädigen. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass Kurz "Knittelfeld 2.0" plante. Dass er nach dem Schüssel-Drehbuch von 2002 vorgegangen ist, mit dem Ziel der absoluten Macht, koste es was es wolle. Dafür entledigte er sich auch mal über Nacht seines Koalitionspartners. Die heutige FPÖ ist aber nicht mehr vergleichbar mit der damaligen Haider-FPÖ. Sie präsentiert sich geschlossen und kämpferisch. Die Legende, wonach die FPÖ nicht regierungsfähig sei, erweist sich als unrichtig. Denn es waren immer die Koalitionspartner, die eine gemeinsame Regierung beendet haben. So wie auch diesmal Sebastian Kurz es getan hat, ohne Notwendigkeit.
Und damit wären wir bei der Frage: Was und wer steckt wirklich hinter dem Putsch? Wem nützt er? Zum einen ist es der Griff nach Macht und Posten. Es gab nämlich keinen nachvollziehbaren Grund, Innenminister Kickl abzuberufen. Schon mit dem BVT-Skandal wurde ein Versuch unternommen Kickl auszuschalten. Kurz argumentierte damit, dass Kickl nicht gegen sich selbst ermitteln könne, weil er 2017 FPÖ-Generalsekretär war. Bei den Freiheitlichen ist die Funktion des Generalsekretärs aber eine rein politische. Die FP-Finanzen fallen in die Kompetenzen eines Bundesgeschäftsführers. In der Causa des ehemaligen ÖVP-Innenministers Ernst Strasser (Lobbyisten-Affäre, 2011, Anm. d. Red.) war während der Ermittlungen ein VP-Minister im Amt - da war aber keine Rede von Unvereinbarkeit. Das war damals nicht von Belang und wäre es auch heute nicht bei Herbert Kickl, denn nicht das Innenressort, sondern Justiz und Staatsanwaltschaft sind Herren eines Verfahrens.
Ebenfalls nicht erklären konnte man, weshalb nicht einfach ein anderer FPÖ-Politiker das Innenressort übernehmen hätte können. Fakt ist, dass Kickl drauf und dran war, die Machenschaften seiner Vorgänger im Amt aufzudecken. Kurz stand unter massivem Druck, musste dem Anschein nach dem "Befehl" einiger ÖVP-Granden folgen, die Kickls Absetzung forderten. Er spielte mit und verzockte sich im Spiel um Macht und Gier.
Des Kanzlers Glück und Ende
Es war aus VP-Sicht anscheinend schon Anfang Jänner klar, diese Regierung zu beenden - das unsägliche Video war dann ein "Gottes-Geschenk", denn es gab wohl keinen besseren Zeitpunkt, als knapp vor der EU-Wahl damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Für Kurz schien die Möglichkeit, sein eigentliches Ziel, die "Alleinherrschaft" zu erreichen, plötzlich zum Greifen nah. Die Türkisen erklärten die EU-Wahl kurzerhand zur Kanzler-Wahl. Aber da hatte man die Rechnung wohl ohne den Wirt gemacht. Denn vergleicht man die EU-Wahl mit der letzten Nationalratswahl, dann hat die Kurz-ÖVP deutlich an Stimmen verloren. 2017 erreichte die Kurz-Partei fast 1,6 Millionen Stimmen, bei der EU-Wahl 2019 hingegen "nur" knapp über 1, 3 Millionen. Damit ergibt sich ein Verlust von 300.000 absoluten Stimmen. Legt man also das Ergebnis auf die NR-Wahl von 2017 um, dann wären die Türkisen bei 26 Prozent (2017: 31,5 Prozent).
Wie es aussieht, hat sich Kurz am Ende verspekuliert, denn jetzt hat er auch keine Mehrheit mehr im Parlament, wurde folgerichtig von einem Großteil der Volksvertreter abgewählt und ist damit der kürzest dienende Kanzler der Geschichte Österreichs. Was Sebastian Kurz aber tatsächlich gelungen ist: das Land in einer Weise zu spalten, wie das noch kein Regierungschef vor ihm geschafft hat.