Wissen wir wirklich nicht, was wir tun?

Foto: Josef Fischnaller

Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen und Bestsellerautor vieler Sachbücher. Im Interview erklärt er, wie Erfahrungen das Gehirn formen, warum Kinder die Lust am Lernen verlieren und warum Engstirnigkeit verhindert, dass man glücklich ist.

Herr Hüther, welche Erkenntnis der Neurobiologie ist für Sie die spannendste und wichtigste?

Dass das Gehirn formbar ist. Bis ins hohe Alter können sich die Vernetzungen im Gehirn noch verändern. Interessant ist das vor allem, weil es bedeutet, dass man nicht bis ins hohe Alter mit denselben Überzeugungen herumrennen muss.

Wie formen Erfahrungen das Gehirn?

Wir haben früher geglaubt, dass die Gehirnentwicklung durch genetische Programme gesteuert wird. Das hat sich inzwischen als Irrtum erwiesen. Genetisch wird so viel Vernetzungsmaterial bereitgestellt, dass ein riesiger Überschuss während der Kindheit entsteht. Anschließend schrumpelt aber all das wieder weg, was man nicht braucht. Menschen wachsen in unterschiedliche soziale Systeme hinein, machen unterschiedliche Erfahrungen und lernen alles, was in diesem Umfeld, in dieser Gemeinschaft notwendig ist. Das Gehirn hat das Potenzial, alles zu lernen. Aber weil man nicht überall gleichzeitig sein kann, lernt man eben nur das, was man braucht.

Das heißt also, man kann das Gehirn immer wieder neu programmieren?

Programmieren ist ein furchtbarer Begriff, weil das ein bisschen so wirkt, als ob ein Fremder das machen könnte. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Man kann sich diese neuen Verschaltungen nur selbst ins Hirn bauen. Die Prozesse muss man selbst in Gang setzen. Man kann nicht etwas lernen, weil einem jemand etwas vorschreibt, sondern nur, wenn man es will. Und sei es, dass man eine Strafe vermeiden oder eine Belohnung bekommen möchte. Aber dann wird primär ja nur gelernt, was man dafür machen muss: zur Not eben etwa auswendig zu lernen.

Kann man das Gehirn eigentlich trainieren?

Man kann alles trainieren. Es ist nur die Frage, ob das für einen persönlich irgendeinen Nutzen hat. Man kann zum Beispiel das kleine Einmaleins auswendig lernen. Aber ob das bei der Lebensbewältigung hilft, weiß ich nicht.

Gehirntraining macht einen also nicht unbedingt intelligenter?

Das mit der Intelligenz ist eine ganz schwierige Geschichte. Zuerst müsste man definieren, was man unter Intelligenz versteht. Und ich fürchte, dass wir da alle etwas anderes im Kopf haben. Intelligenz, so wie wir sie meist verstehen, meint immer nur kognitive, analytische Intelligenz. Es gibt aber auch noch eine soziale und eine emotionale Intelligenz, eine Körperintelligenz und so weiter. Und dazu kommt noch, dass man zeitlebens die Möglichkeit hat, frühe Prägungen durch neue Erfahrungen zu überlagern. Und dann entstehen im Hirn neue Netzwerke.

Wie gut ist das Gehirn eigentlich erforscht?

Für das, was wir beispielsweise über das Lernen wissen müssten, ist es schon seit ungefähr zehn Jahren hinreichend erforscht. Wir müssten endlich einmal einiges von dem, was wir wissen, umsetzen.

Was zum Beispiel?

Wir wissen, dass das wichtigste, was ein Kind mit auf die Welt bringt, was für sein ganzes Leben entscheidend ist, die angeborene Lust am Lernen ist. Und trotzdem haben wir Schulen, wo die meisten Schüler nach wenigen Jahren diese Lust schon verloren haben.

Und wie kann man sie erhalten?

Diese Lust würde nicht verschwinden, wenn ein Kind fühlen würde, dass man es als Subjekt wahrnimmt. Wenn es als Objekt behandelt wird, geht alles weg. Und zum Objekt wird man gemacht. Zum Beispiel zum Objekt von Bewertungen, von Erwartungen, von Evaluationen, von Zielvorgaben, von Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen. Unsere ganze Kultur fundiert darauf, dass wir uns zu Objekten machen. Und dann wundern wir uns, dass die Lust am Lernen in der Schule und später auch beim Arbeiten verschwindet.

In Ihrem Buch „Etwas mehr Hirn, bitte” schreiben Sie, dass wir uns immer besser an die selbst gestaltete Lebenswelt anpassen und dadurch immer weniger hinterfragen. Welche Auswirkungen hat das?

Der Mensch ist ja das einzige Lebewesen, das die Welt, in der es lebt, weitgehend selbst gestaltet. Und dabei kann man sich auch irren. Man kann Dinge für wichtig halten, die kurzfristig vielleicht ganz bequem sind, die sich aber langfristig als fatale Irrtümer erweisen.

Zum Beispiel?

Wir finden es jetzt alle ganz wichtig, vieles zu digitalisieren und von Automaten oder Robotern verrichten zu lassen. Mit dem Ergebnis, dass wir aber all diese Fähigkeiten verlieren. Mit anderen Worten: Wir können uns nichts mehr merken, wir können bestimmte Handlungen nicht mehr ausführen, wir können unsere Sinne auch nicht mehr so nutzen, wenn wir Maschinen haben, die das für uns tun. Ein konkretes Beispiel: Die Augenärzte rufen Alarm, weil Kinder immer kurzsichtiger werden. Und das ist so, weil sie gößtenteils nur noch in einem Abstand von 20 Zentimeter schauen. Man kann sagen, okay, wir leben im digitalen Zeitalter, die müssen in der Ferne nichts mehr erkennen. Aber wenn man es schon macht, wäre es wichtig, dass man sich auch bewusst macht, was man dafür in Kauf nimmt. Und da haben wir, glaube ich, erhebliche Defizite. Wir gestalten unsere Welt, ohne zu wissen, was wir tun.

Aber davon kann man sich nur befreien, wenn es einem bewusst wird …

Das ist das Einzige, was hilft. Das ist auch, was die asiatischen Weisheitslehren sagen. Man muss es erkennen, sonst kann man es nicht ändern. So verstehe ich auch die Aufgabe der Wissenschaft. Dass sie dazu beiträgt, dass die Menschen erkennen, was sie tun. Um ihnen die freie Wahl zu lassen, ob sie das fortsetzen wollen.

Sie sagen auch, dass man sein ganzes Potenzial nur im Austausch mit anderen Menschen ausnutzt.

Ein Potenzial kann sich nur entfalten. Dann wird es zu einer Fähigkeit, und die kann man nutzen. Wir wissen, dass viel mehr an Vernetzungsmöglichkeiten im Hirn angelegt werden, als man wirklich braucht. Das heißt, wir haben alle ein größeres Potenzial. Man kann auch sagen, wir sind alle eine Kümmerversion von dem, was aus uns hätte werden können. Und wir können dieses Potenzial nur gemeinsam mit anderen zur Entfaltung bringen. Wir sind soziale Wesen, unser Hirn ist ein soziales Konstrukt. Diese Erkenntnis ist in den vergangenen hundert Jahren konsequent übersehen worden.

Wie meinen Sie das?

Das Ausmaß der Abhängigkeit der Menschen voneinander ist viel größer, als wir uns das vorstellen können. Als Einzelwesen hätten wir keine einzige Kulturleistung zustande bringen können. Das sind alles co-kreative Prozesse. Und jedes Kind, das in diese Gesellschaft hineinwächst und erwachsen wird, verdankt so ziemlich alles, was es im Kopf hat, dem Umstand, dass es andere Menschen gegeben hat, die ihm geholfen haben, das alles reinzubauen. Ich habe die Akademie für Potenzi-alentfaltung gegründet. Und da geht es um die Frage, wie Gemeinschaften aussehen und Menschen miteinander umgehen sollten, damit sie in einen Prozess kommen, den man Co-Kreativität nennt.

Was bedeutet Co-Kreativität?

Es gibt Gemeinschaften, die sind davon bestimmt, dass die Menschen miteinander konkurrieren. Dann gibt es eine nächste Stufe, in diesem Übergang befinden wir uns im Augenblick, da fangen die Menschen an zu erkennen, dass es besser wäre, zu kooperieren. Und dann gibt es noch eine Stufe, die Co-Kreativität, die ist Zukunftsmusik. Sie ist nur in vertrauensvollen Gemeinschaften möglich, in denen die Menschen einander als Subjekte begegnen. Kooperation kann man durch Verträge ordnen. Im Grunde werden die anderen dann aber immer noch als Objekte benutzt.

Und deshalb kann man sein Potenzial nicht entfalten?

Solange Menschen einander als Objekte benutzen, ist Potenzialentfaltung unmöglich. In dem Augenblick, in dem man anfängt, einander als Subjekte zu begegnen, ist Potenzialentfaltung unvermeidbar. Wir verhindern also durch unsere Engstirnigkeit, mit der wir unser gegenwärtiges Zusammenleben gestalten, dass es uns gut geht. So bleiben wir zu dumm, um glücklich zu sein.

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